Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle
Offener zweiphasiger Realisierungswettbewerb / Mai 2009 bis Januar 2010 / Text: Bernd Degner / Grafische Beratung: Thorsten Buch / Beratung Freiflächenpanung: Keller Damm Landschaftsarchitekten
Im Zuge der Baumassnahmen der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main soll in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Grossmarkthalle eine Stätte der Erinnerung an mehr als 10 000 jüdische Bürger entstehen, die an diesem Ort zusammengetrieben und in Konzentrationslager im Osten deportiert wurden.
Das Projekt soll an die historischen Vorgänge erinnern, über sie informieren und so das Gedächtnis an die organisierte Ermordung der Juden durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik wachhalten.
Beginn und Annäherung
Von der Hanauer Landstraße einbiegend eröffnet sich dem Besucher und Passanten in Richtung Main ein knapp 4 m breiter, hell asphaltierter Pfad als Rad- und Fußweg. Er führt durch einen mit Kiefern und Gräsern bewachsenen Geländestreifen, der zwischen dem Bahndamm links und der Landschaftsgestaltung des EZB-Geländes rechts vermittelt. Farbigkeit und Bewuchs wecken Assoziationen an Yad-Vashem und die Klagemauer.
Zeit und Raum
Nach knapp 100 Metern finden sich vereinzelte, scheinbar wahllos im Gelände verstreut liegende, Steinplatten, bündig in Kies, Gras oder Asphalt eingelassen. Sie sind mit Datum und einem kurzen Text graviert. Die Meldungen auf den Steinen beziehen sich auf antisemitische Vorkommnisse in Frankfurt, auf Nazipropaganda, Erlasse, Berufsverbote und andere Repressionen, aber auch auf Reaktionen der internationalen Politik und Kriegsgeschehen.
Mit zunehmender Deutlichkeit werden diese „Zeitsteine“ von quer verlaufenden Messingbändern gegliedert. Die Bänder tragen Jahres- und Monatsbezeichnungen. Insgesamt entstehen so 13 gleichlange Teilabschnitte, von denen jeder für ein Jahr der Naziherrschaft in Deutschland steht und in 12 Monate unterteilt ist.
Eine im Wegesverlauf zunehmende Zahl von Meldungen legt sich über Vegetation und Wegeführung, bis nahezu die gesamte Breite des Streifens von einem Teppich aus Meldungen bedeckt ist. Die Verdichtung der Ereignisse und in der Folge das Verschwinden der Diversität der Landschaft steht für die Entwicklung von Übergriffen Einzelner Gruppen hin zum kollektiven Orientierungs- und Werteverlust der den Völkermord ermöglichte.
Der Weg, den damals die Opfer gezwungen wurden zu gehen, wird zum begeh- und erfahrbaren Kalendarium. Eine Chronologie, die Zeitgeschichte in einen individuellen Kontext stellt. Ziel ist nicht, dass jeder Stein gelesen wird, sondern dass der Besucher seinem Weg entsprechend Informationen „en passant“ begegnet. Hinsehen oder Wegsehen? Der Blick auf die Geschichte bleibt ein individueller. Die Gedenkstätte nähert sich dem Blick der Zeitzeugen.
Im Herbst 1941 begannen die ersten Deportationen aus Frankfurt. Hier nähert sich das Kalendarium der Bahnunterführung und damit den historischen Relikten wie Stellwerk und Gleisharfe. An den Tagen der Deportationen wachsen die Zeitsteine zu Gedenksteinen aus dem Boden. Beschriftet sind sie mit dem Datum, dem Ort der Verschleppung und der Anzahl der Opfer. Ihre Position und Höhe ermöglicht dem Besucher eine Einordnung von Dimension und zeitlichen Kontext auf einen Blick. Die räumliche Gestalt der Gedenkstätte wird zur unmittelbar erfahrbaren historischen Perspektive.